Lesehinweis
Herausgegeben von Niki Kubaczek und Monika Mokre
transversal texts, Wien 2021, 308 Seiten, 15 €
Aktivist*innen können das Buch als PDF runterladen
In diesem Buch sind Diskussionen und Denkfiguren festgehalten, die in den Netzwerken für Bewegungsfreiheit und Solidarische Städte wichtig geworden sind – oder in Zukunft wichtig werden könnten. Alle, die sich mit den Fragen von Migration, Solidarität und Ankommen auseinandersetzen, werden in diesem Buch wertvolle Hinweise finden.
Die Buchkapitel sind zum Teil Übersetzungen englischsprachiger Artikel, die bereits andernorts publiziert wurden, zum Teil sind es Interviews mit Aktivist*innen und Forscher*innen. Es wird über Erfahrungen aus konkreten Projekten berichtet: dem Alarmphone, City Plaza und der Syrian Solidarity House Initiative in Athen, der Kirchenasylbewegung oder den Initiativen gegen das Racial Profiling in der Schweiz. Allgemeiner geht es in anderen Kapiteln um Differenz und Integrationszwänge, Wohnungskämpfe und gärtnerische Urban Commons, und immer wieder um die Einschätzung des städtischen Raums als Ort, an dem die „Infrastrukturen der Solidarität“ sich entwickeln – als konkrete Gegenpole gegen den Diskurs des Nationalen.
Die Interviews bereichern das Buch um lebendige Einwürfe, die manchmal quer zu den Artikeln stehen und über das Thema Stadt weit hinausreichen: im Interview mit Maurice Stierl geht es um das Alarmphone und den Palermo Charta Prozess, im Interview mit Serhat Karakayali um Nicht-Gleichheit als Grundproblem vieler sozialer Bewegungen, im Interview mit Roma-Aktivist*innen von Ame Panzh um die Möglichkeit Solidarischer Städte in Ungarn, im Interview mit zwei Aktivist*innen der IL aus Köln um Solidarity Cities als mögliche Orte antirassistischer Politik und im Interview mit Vassilis Tsianos um die „mobile commons“ und um einige Episoden aus dem Leben eines Migrationsforschers und Mitautors der Escape Routes.
Das sind natürlich nur Streiflichter, zur Orientierung. Gerade aufgrund seiner vielen Facetten lohnt es sich, im Buch zu lesen, innezuhalten und noch einmal nachzudenken. Wenn ich einen Beitrag besonders empfehlen sollte, dann wäre es der von Sarah Schilliger: eine wirklich gelungene Synthese von Aktivismus und Forschung, mit einem Begriff von „Solidarität als Prozess“, der, denke ich, besser zugänglich ist als das Abstraktum einer „transversalen Solidarität“. Das Interview mit Maurice Stierl belegt bei mir Listenplatz 2 – zumal bei Alarmphone und dem Palermo Charta Prozess derzeit deutlich mehr Schaum drauf ist als bei den Solidarity-City-Initiativen.
Was letztere angeht, möchte ich gern Berena Yogarajah aus Köln zitieren (S. 213 ff): “Wenn wir Erschöpfung und Auf der-Stelle-Treten vermeiden wollen, braucht es Bündelung. Die unterschiedlichen Arbeitsgruppe, Initiativen und Organisationen müssen voneinander Bescheid wissen, um zu verstehen, woran die anderen gerade arbeiten.“ Niki Kubaczek sagt darauf: „Meiner Meinung nach ist (die Erschöpfung) eine nach wie vor unterschätzte Bedrohung für den politischen Aktivismus. Die Frage ist also, wie der Erschöpfung entkommen werden kann, oder anders formuliert: Wie Beständigkeit und Ausdauer herstellen?“ Es komme nicht nur auf den Moment des Umsturzes an, sondern es gehe darum, „die vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse dadurch umzustürzen, indem sie untergraben, ausgehöhlt, umzingelt und durch viel bessere, befriedigendere, freiere, glückversprechende, gerechtere und solidarische Verhältnisse ersetzt werden. […] Die Stadt als ein Ort des Zusammenlebens verweist darauf, dass das Gemeinsame, in dem wir uns zu Hause fühlen, nicht durch die Homogenität charakterisiert ist – wie es der Nationalismus uns immer wieder gern einredet – sondern vielmehr durch die Heterogenität und Nicht-Identität.“
Die Frage nach der Solidarität (Sorge und Solidarität unter Nicht-Gleichen, heißt es in der Einleitung) zieht sich durch alle Beiträge, vom gemeinsamen Kochen und Essen im City Plaza über die gemeinsame Aneignung von Aufenthaltsrechten, Wohnraum und Gärten bis zu dem, was Sarah Schilliger als „Infrastruktur der Solidarität“ bezeichnet. Ganz besonders möchte ich hier auf den Beitrag von Tahir Zaman verweisen (Platz 3 auf meiner Hitliste), der über die Rolle der Gastfreundschaft als täglich gelebter islamischer Tradition schreibt – welche von Aktivist*innen gern auf „Solidarität“ verkürzt wird. Diese Gastfreundschaft / Nachbarschaft gehört zu den wichtigsten Dingen, die für eine Transformation der Städte in Europa von Bedeutung sind.
Eine weitere Spur, die sich durch das Buch zieht, handelt vom Ankommen – Vassilis Tsianos spricht von einer „Flucht aus der Flucht“ (S. 263). Die Kämpfe um Bewegungsfreiheit müssen sich in die Städte verlängern – für ein „Ankommen jenseits der Homogenisierung und Unterordnung“. Genau so haben viele von uns gedacht, als wir vor einigen Jahren die Solidarity-City-Initiativen in Gang gebracht haben. Die Politiken von Integration und Deportation haben den Elan ausgebremst, noch vor Corona.
Aber das ist nicht das Ende aller Tage. Auf neue Migrationsbewegungen werden wir nicht ewig warten müssen. Die Erfahrungen aus dem Sommer der Migrationen leben fort, auch in diesem Buch, das wertvolle Überlegungen und Einsichten transportiert, was Solidarität in den Städten heißen könnte.