Solidarische Stadt Briançon

Bericht über eine Tour in der französisch-italienischen Grenzregion, Mai 2018
Quelle: http://moving-europe.org/bericht-ueber-eine-tour-in-der-franzoesisch-italienischen-grenzregion-mai-2018/

Im Mai 2018 besuchten drei Freund*innen, die mit Moving Europe vernetzt sind, die Grenzregion zwischen Italien und Frankreich und schrieben einen Bericht über die aktuelle Situation in Ventimiglia, in den Tälern der französisch-italienischen Grenzregion und in der Region PACA (Provence Alpes Côte d’Azur). Hier ist eine Zusammenfassung des Berichts:

Ventimiglia

Die kleine Stadt Ventimiglia ist seit 2015 einer der wichtigsten Knotenpunkte der Migration von Italien nach Frankreich. Die Grenze liegt fünf Meilen westlich des Ortes. Die Passage auf dem direkten Weg entlang der Küste nach Menton ist jedoch selten erfolgreich. Auf dieser Straße sahen wir viele Migrant*innen, darunter mehrere Familien mit Kindern. Sie wurden an der Grenze zurückgewiesen und kehrten nach Ventimiglia zurück.

Entlang des Flusses, neben der Via Tenda, wurden das informelle Lager und das No-Border-Camp, das im Jahr 2015 voller Leben war, zerstört. Der wiederholte Wiederaufbau informeller Lager hat immer wieder zu raschen Vertreibungen geführt. Das Gebiet entlang des Flusses ist nun durch Tore verschlossen. Eine starke Polizeipräsenz stellt sicher, dass keine neuen Lager errichtet werden. Wir haben auch eine starke Polizeipräsenz an den Lebensmittelverteilungsstellen beobachtet: auf dem Parkplatz vor dem Friedhof und vor dem Infopoint an der Via Tenda 8c. Die Stadt ist voller Polizisten. Die Situation ist scheinbar ruhig, aber die Spannung ist spürbar. Unzählige Menschen hängen am Bahnhof herum: Migrant*innen, Polizisten und Schmuggler. Später erfahren wir, dass es etwa 300 Schmuggler – sogenannte Passeurs – in Ventimiglia gibt. Am Ende schaffen es fast alle Migrant*innen, die Grenze zu überqueren – ob in den Autos von Schmugglern oder mit Unterstützung von Aktivist*innen und/oder auf mehr oder weniger autonome Weise – einige gar mit dem Zug (es gibt Kontrolleure, die in die andere Richtung schauen), andere zu Fuß über die Berge. Viele versuchen dies mehrmals. Für Familien ist es am schwierigsten. Um die Polizeikontrollen zu vermeiden, versuchen einige von ihnen, auf gefährlichen Strecken auszuweichen, Passagen, die bereits zu schweren, manchmal tödlichen Unfällen geführt haben.

In der Nähe des Bahnhofs, in der Via Sir T. Hanbury, befindet sich die Hobbit Bar. Abgesehen vom Infopoint ist es der einzige Ort, an dem die Migrant*innen Unterstützung in ihrem täglichen Leben finden können, die einzige Bar in der Stadt, in der sie willkommen sind. Es gibt Spiele für die Kinder, einen kostenlosen Second-Hand-Laden, Handy-Ladestationen und Zahnbürsten in der Toilette. Die Gäste werden von Delia, der Besitzerin, und ihrem Personal herzlich empfangen. Die meisten der ehemaligen Kund*innen sind abgesprungen, seit die Hobbit Bar ein Ort der Solidarität geworden ist.

Viele der Aktivist*innen aus der Region Ventimiglia können auch nicht mehr in die Stadt kommen. Sie wurden über Gebietsverbote («follio di via», wohl analog Wegweisungsverfügungen und Rayonverboten) kriminalisiert, ausgestellt durch die Polizei – administrative und nicht-strafrechtliche Entscheidungen, die anzufechten eine sehr langwierige und komplizierte Sache wäre – und es wurde ihnen verboten, die Stadt zu betreten. Was die ursprünglich in Ventimiglia aktiven Netzwerke ARCI und presidio no border betrifft, waren diese dadurch gelähmt. Aber es gibt immer noch Menschen aus Frankreich und anderen Teilen Italiens, die jede Woche Lebensmittel, Medikamente und andere nützliche Dinge vorbei bringen.

Das offizielle Camp befindet sich 4 km außerhalb der Stadt und wird vom Roten Kreuz verwaltet. Der Eingang wird von Personal mit schusssicheren Westen bewacht. Im Camp stehen 500 Plätze zur Verfügung. Bei ihrer ersten Ankunft werden den Flüchtlingen die Fingerabdrücke genommen. Eine OXFAM-Mitarbeiterin erklärte einer Familie, dass es nur um die Sicherheit des Lagers gehe und dass die Fingerabdrücke nicht an die Behörden weitergegeben würden. Aktivist*innen bezweifeln das.

Das Vallée de la Roya

Der Fluss Roya fließt bei Ventimiglia ins Meer. Die Grenze liegt circa 10 km nordwestlich, dem Flusslauf entlang hoch. Die Roya fliesst durch die ligurischen Alpen. Es gibt mehrere Möglichkeiten, die Grenze zu überqueren und die französische Seite des Roya-Tals zu erreichen. Es gibt Straßensperren der Polizei auf den normalen Straßen. In Ventimiglia können sich die Migrant*innen für die Überquerung mit einem Kurier arrangieren. Der Preis beträgt 150€ und beinhaltet die Adresse des nächstmöglichen Anlaufpunktes in Frankreich. Die Routen sind nicht ungefährlich: Seit 2015 sind dort 17 Menschen gestorben, die letzten im Frühjahr 2018.

Im Vallée de la Roya gibt es mehrere Gruppen, die Flüchtlinge unterstützen – aus humanitären Gründen, aber auch als politische Kollektive oder als autonome Individuen. Einige Einwohner*innen publizieren eine Zeitung, die gewöhnlich über die verschiedenen Probleme des Vallée de la Roya berichtet (Raumplanung, große Autobahninfrastrukturen, Verteidigung der Eisenbahn und der ländlichen Gebiete, Verurteilung der Militarisierung, das Tunnelprojekt Tende-bis, die Trinkwasserversorgung usw.). Diese Zeitung wird von etwa 1.000 Menschen gelesen. Eine faschistische Gruppe versuchte auch, eine Zeitung zu veröffentlichen, aber sie verschwand nach drei Ausgaben wieder, weil die Leser und Leserinnen, eher rechtsgerichtet, schlussendlich von den vielen gefälschten Nachrichten dieser Boulevardzeitung abgestoßen wurden.

Unter den Gruppen, die humanitäre Hilfe leisten, sind jene, die sich um Cédric Herrou herum konstituieren, die wichtigsten (die historische „Roya Citoyenne“, und seit kurzem „DTC défends ta citoyenneté“). Cédric Herrou wurde für seine Hilfe für die Flüchtlinge verurteilt, ohne dass ihn dies beirrte; er tut, was er für richtig hält, und Politik mag er nicht. Die Aktivist*innen handeln, ohne externe Unterstützung zu suchen, mit Ausnahme von Sachspenden. Sie tun, was ihnen ihr Gewissen vorschreibt, die Vertriebenen, die Migrant*innen sind da und müssen versorgt werden, die Aktivisten reagieren auf eine Notsituation.

Campingplatz de Cédric Herrou, Val de Roya

Die Straße, die zum Camp Saorgin in Breil-sur-Roya führt, geht über die Berge: sie ist leicht zu kontrollieren. In Sospel, etwa 10 km vor Breil, errichtete die Polizei eine Straßensperre, ebenso auf der D6205 aus Richtung Ventimiglia. Auch der Standort selbst steht unter ständiger polizeilicher Überwachung.

Alles begann, als Cedric und sein Netzwerk den Flüchtlingen halfen, die Grenze zu überqueren. Heute ist der Ort bei Flüchtlings- und Schmugglernetzwerken so bekannt, dass das Lager oft an seine Kapazitätsgrenzen stößt. Es waren bis zu 300 Personen vor Ort. Cédric kümmert sich mit Hilfe einiger Freiwilliger um sie. Im Sommer 2017 haben 1.500 Flüchtlinge sein Grundstück passiert.

Der Ort selbst wirkt informell, die Infrastruktur improvisiert. Es ist ein idyllischer Ort, sicher schlammig im Regen, was in dieser Region glücklicherweise selten ist. Von der Straße nehmen wir einen steilen Pfad hoch zur Hühner- und Olivenfarm von Cedric. Im felsigen Olivenhain gibt es Zelte, eine Außenküche, Trockentoiletten, improvisierte Duschen. Der Weg ist ein kleiner Kletterpfad. Wasser ist knapp. Als wir ankommen, sind nur wenige Leute vor Ort, die sich waschen, ihre Kleidung reinigen, ihre Smartphones aufladen, telefonieren und Essen zubereiten. Alle kamen am Abend zuvor an. Am Morgen ging eine Gruppe von Flüchtlingen nach Nizza.

Es gibt eine Vereinbarung mit der Polizei: Cedric erstellt eine Liste mit den Namen der Flüchtlinge, macht Fotos von ihnen und schickt diese Daten per E-Mail an die Polizei, um damit die Asylanträge stellen zu können. Die Migrant*innen können sich 3 Tage lang von ihrem Weg durch die Berge ausruhen, dann erhalten sie temporäre Papiere. Anschließend fahren sie in Gruppen, begleitet von Freiwilligen, mit dem Zug nach Nizza. Von dort aus werden sie in andere Regionen geschickt. Der Campingplatz fungiert zum Teil als informelles Empfangszentrum.

Ein offenes Haus im Hinterland von Nizza: die Karawanserei

Etwa zwanzig Kilometer von Nizza entfernt, auf dem Land, liegt Huberts Haus und Grundstück. Zwischen 10 und 40 Menschen sind da, auf der Durchreise oder zum Ausruhen: Flüchtlinge und Aktivist*innen, Besucher*innen und viele andere, die sich einfach nur entspannen wollen. Bevor er über humanitäre oder politische Fragen spricht, spricht Hubert über Gastfreundschaft. Das ist sein Grundwert, ob selbst auf Reisen oder als Gastgeber. Er nennt seinen Ort deshalb auch die Karawanserei.
Sein Haus steht allen Reisenden offen und er macht keinen Unterschied zwischen Migrant*innen, Exilierten oder Urlauber*innen. Das Haus von Hubert arbeitet mit der Organisation „Habitat & Citoyenneté“ zusammen, einer Solidaritätsinitiative, die den Idealen des Netzwerks Solidary-City entspricht. „Habitat & Citoyenneté“ ist ein Informationszentrum mit einem Netzwerk in vielen europäischen Ländern. Es macht es möglich, den Menschen innerhalb von 48 Stunden eine Orientierung zu geben. Die überwiegende Mehrheit von ihnen ging mit eigenen Mitteln, zu Fuß, mit dem Auto, mit dem Zug und sie haben die Adresse des Vereins. Vom Lokal von „Habitat & Citoyenneté“ werden sie zu Hubert gebracht, wenn es dort Platz gibt. Auch Leute, die in Nizza auf der Straße schlafen und an den Verein verwiesen wurden, kommen zu ihm nach Hause, manchmal sind es die Sozialämter oder sogar die Präfektur, die den Aufenthalt in seinem Haus vorschlagen.

Hubert ist ein charismatischer, pragmatischer und optimistischer Mensch, jeder dort nennt ihn Baba (Vater). Der Unterschied zwischen diesem Lebensort und denen von Cédric und den anderen ist, dass es im Vallée de la Roya notwendig ist, den Notstand zu bewältigen. Was tun, wenn in der Nacht 50 Personen ankommen? Bei Hubert haben die Gäste keine Hindernisse, Barrieren, Mauern, Demütigungen mehr. Hubert fragt sie nicht, wann sie gehen wollen. Sie verfügen selber über ihre Zeit. Diese verschiedenen Aufnahmeorte arbeiten eng zusammen und teilen die gleiche Analyse. Die Karawanserei ist die Etappe, die der ersten Ankunft nach der Grenze folgt, sowohl in der Aufnahme als auch in der Orientierung.

Der Alltag in diesem Haus verläuft ohne Regeln: keine Planung, keine Meetings, jedeR tut, was er/sie will und kann. Als wir ankamen, waren etwa 15 junge Männer vor Ort. Einige von ihnen bauten eine neue Tür für den Hühnerstall, andere hörten Musik oder putzten das Haus, nochmals andere führten Reparaturen aus, die letzten ruhten oder schliefen.

Es ist ein ständiges Kommen und Gehen: Freund*innen kommen mit (oder ohne) Spenden vorbei und bleiben ein paar Tage, Migrant*innen aus anderen Regionen kommen zurück, um „ihre Familie“ zu besuchen und Ruhe zu finden oder ein Konzert zu besuchen. Hubert möchte, dass sein Zuhause ein ruhiger Ort bleibt, an dem die Reisenden wieder zu Kräften kommen und darüber nachdenken können, wo und wie sie ihre Reise fortsetzen können. Er interessiert sich für Gäste und spricht gerne mit ihnen. Der Verein „Habitat & Citoyenneté“ erhält Lebensmittel von der Banque Alimentaire de Nice. Reisende müssen wieder zu Kräften kommen und viel essen, so Hubert.

Zum Thema Repression erklärt Hubert, dass innerhalb des Vereins jedeR die Verantwortung für sein/ihr Handeln übernimmt: sie agieren offen und verstecken sich nicht. Einige von ihnen wurden bereits oft verhaftet, aber in der Regel nach 48 Stunden wieder freigelassen. Auch Hubert wurde bereits in Polizeigewahrsam genommen und etwa 15 Flüchtlinge wurden nach Italien zurückgeschickt. Zwei Tage später war er wieder frei, und nach zwei weiteren Tagen waren alle Flüchtlinge wieder zurück bei ihm auf dem Gelände.

Hubert glaubt, dass die Toleranz der Polizei und der Behörden damit erklärt werden kann, dass die Flüchtlinge nicht in Nizza auf der Straße rumhängen und der Staat sie nicht unterstützen muss. „Habitat & Citoyenneté“ erhält keine staatliche Förderung, sie leben von Spenden. Sie haben aktuell finanzielle Probleme – nächsten Monat werden sie nicht genug Geld haben, um die Miete für ihre Räumlichkeiten in Nizza zu bezahlen.*

In der Region von Nizza ist der Front National sehr stark, aber Hubert hat keine Probleme mit seinen Nachbar*innen. Einige sind „fachos“, aber sie handeln nicht konkret. Die Dorfgemeinschaft und der Bürgermeister bereiten ihm keine Probleme, manchmal sind sie sogar freundlich.

Unterstützungskollektive im Var und in Marseille

Nordwestlich von Nizza liegt die Bergregion des Haut-Var, wo es auch Gruppen gibt, die Flüchtlinge unterstützen. Die bekannteste, „Haut-Var Solidarité“, wurde 2016 gegründet und unterstützt Migrant*innen durch Unterbringung, gegenseitige Unterstützung und im Kampf gegen Polizeipraktiken an der Grenze und gegen alle Grenzen. Die Kollektive stehen in engem Kontakt mit dem selbstverwalteten Sozialzentrum von Marseille „Manba“ sowie mit anderen Kollektiven aus Marseille, die sich mit dem Empfang und der Beherbung von Migrant*innen, dem Kampf gegen Vertreibungen und der französischen und europäischen Migrationspolitik beschäftigen. Ein Treffen der südöstlichen Koordination all dieser Kollektive soll im Herbst organisiert werden.

Über die Alpen, von Italien nach Briançon, eine Stadt der Solidarität

Die Flüchtlingsroute durch Italien führt hauptsächlich durch Mailand. Von dort fahren die Flüchtlinge entweder nach Südwesten in Richtung Ventimiglia oder nach Westen in Richtung Turin. Dort teilt sich die Straße wieder: eher nach Norden in Richtung Bardonecchia oder etwas weiter nach Süden in Richtung Claviere und weiter über den Montgenèvre-Pass nach Briançon.

Auf der italienischen Seite dieses Passes, in Claviere, befindet sich ein besetztes Untergeschoss in der Kirche, das „Chez Jésus“. Die Kirche toleriert es, weil der Papst 2018 zum Jahr der Obdachlosen erklärt hat. Es gibt einige Matratzen, aber die meisten Flüchtlinge benutzen das „Chez Jesus“ als letzten Informationspunkt vor der Grenze, wo sie sich ausruhen und ernähren können, bevor sie die Grenze überschreiten. Diese ist circa 1 Kilometer vom Dorf entfernt. Das „Chez Jesus“ ist teilweise von denselben Aktivist*innen besetzt wie das „Chez Marcel“ in Briançon (von dem wir später noch berichten werden), aber auch Leute aus Italien sind beteiligt. Der Ort wird von der italienischen Geheimpolizei überwacht, bisher ohne größere Zwischenfälle. Ende Juli haben wir aber erfahren wir, dass das selbstverwaltete „Chez Jésus“ von der Räumung bedroht ist.

In Claviere treffen wir zwei Gruppen von Migranten, die mit dem Bus aus Turin gekommen sind. Das Ticket kostet 10 Euro, die Passeure aber nehmen bis zu 300 € für die gleiche Strecke und „liefern ihre menschliche Fracht“ direkt vor dem „Chez Jesus“ ab. Es kommen 20 bis 50 Personen pro Tag. Meistens bleiben die Migrant*innen bis zur Dämmerung, benutzen dann die Wege und überqueren die Hügel und warten im Waldgebiet nahe der Grenze auf die Nacht. Sie überqueren die Grenze im Dunkeln und versuchen, Briançon in der Nacht zu erreichen. Wenn sie sich nicht verirren und in guter körperlicher Verfassung sind, brauchen sie 3 bis 4 Stunden, um diese 15 Kilometer zu bewältigen, aber in der Regel dauert die Strecke eher 8 Stunden, in komplizierten Fällen bis zu 15 oder 20 Stunden. Der Weg ist markiert und es gibt Menschen, die den Weg bei Schneefall vorbereiten. Bei winterlichen Bedingungen dauert es sogar noch länger, um voranzukommen. Es braucht auch länger, wenn die Menschen sich vor der Polizei verstecken müssen, oder für Familien mit Kindern. Viele Menschen wurden durch die Kälte verletzt, und mindestens drei Menschen starben auf der Straße, darunter eine Frau, die in einen Hochwasser führenden Bergfluss fiel, als sie davonrannte bei dem Versuch, der Polizei zu entkommen. Der Grenzübertritt ist eigentlich ganz einfach, aber je näher man der Stadt Briançon kommt, desto schwieriger wird es. Ein Golfplatz (im Winter eine Skipiste) auf beiden Seiten der Grenze muss direkt am Pass überquert werden. Die letzten hundert Meter sind die gefährlichsten: eine verstärkte Polizeipräsenz, das stärker werdende Tageslicht, die zunehmende Erschöpfung machen diese letzten Meter zum schwierigsten Teil der Reise.

Die Polizei hat feste Kontrollpunkte entlang der Straße vom und am Montgenèvre-Pass und mobile Kontrollpunkte entlang der Wanderwege und Pfade eingerichtet. Außerhalb des festen Grenzübergangs führt die Polizei mobile Kontrollen auf den Straßen und Wegen durch. Sowohl auf italienischer als auch auf französischer Seite scheinen die Einstiegspunkte in die Route als auch die Besetzungen respektiert zu werden. Sobald die Flüchtlinge Briançon erreicht haben und wissen, wohin sie gehen sollen, sind sie sicher und können trotz starker Polizeipräsenz in der Stadt Asyl beantragen.

Mitte Juni wurde am Montgenèvre-Pass ein Lager eingerichtet. Drei Tage lang überquerten fast 400 Aktivist*innen die Grenze mit Musik, Liedern und Megaphonen. Diese Demonstration entlang der normalerweise von Flüchtlingen benutzten Wege sollte die Durchlässigkeit der Grenze aufzeigen und gegen die Kontrollen protestieren. Nach dieser Aktion wurde inzwischen gegen 7 Personen ein Strafverfahren eröffnet (siehe Beilage). Ein neues Treffen ist vom 19. bis 23. September geplant.

In Briançon sind die Menschen, die aktiv sind, politisiert und eng miteinander vernetzt. Es gibt mehrere Besetzungen oder Unterkünfte, in denen Flüchtlinge untergebracht sind. Die größte ist die „CRS“, eine ehemalige Kaserne, die sich im Besitz der Stadt befindet und von Aktivist*innen verwaltet wird, um Flüchtlinge aufzunehmen. Man sagt, dass es sogar ein oder mehrere Alarmtelefone gibt. Das erinnert uns an eine Art von underground railroad für Leute, deren Bewegungsfreiheit beschränkt ist.

Es ist auch wichtig zu betonen, dass der Bürgermeister von Briançon linksgerichtet und konziliant ist. Die Stadtverwaltung ist aufgeschlossen und weiß es zu schätzen, dass Flüchtlinge nicht die Straßen oder Parks besetzen, was die Touristen stören könnte. Dies mag einer der Gründe sein, warum die 13 Bürgermeister der grenznahen Gemeinden gemeinsam beschlossen haben, die Flüchtlinge aufzunehmen und ihnen Unterschlupf zu gewähren. Die Verwaltung und die Solidaritätsaktivist*innen sind besorgt über die derzeitige Präsenz der Identitären (französische Rechtsradikale der Bewegung der Identitären), auch wenn diese derzeit keine festen Verbindungen in der Kleinstadt haben. Die Identitären versuchen, die Flüchtlinge auf den Pfaden zu verhaften, sie zurückzuschicken und der Polizei zu melden, und sie bespitzeln die Solidarischen, aber es sind kaum mehr als 15 von ihnen. Im Frühjahr 2018 organisierte das Netzwerk „Defend Europe“, ein fremdenfeindliches und faschistisches europäisches Netzwerk, Grenzsperraktionen auf dem Col de l’Echelle. Obwohl es nicht gelungen ist – wie im Vorjahr der Versuch, mit dem Boot „C-Star“ Migrant*innen im Mittelmeer zu blockieren –, löste die Aktion dennoch einen großen Medienrummel aus.

Die Zusammenarbeit der Verwaltung mit den vielen Aktivist*Innen und Freiwilligen funktioniert in Harmonie; der Geist des Willkommens hat hier bis heute überlebt. Derzeit gibt es über 300 Flüchtlinge in Briançon, aber die meisten bleiben nicht lange und setzen ihre Reise innerhalb von drei Tagen nach ihrer Ankunft Richtung Lyon, Paris, Marseille oder anderswo fort. In letzter Zeit gab es am Bahnhof von Lyon einige Zurückweisungen von Migrant*innen, als der Zug ankam.

„Chez Marcel“ ist ein altes besetztes Haus in der Nähe des Stadtzentrums, das an einem steilen Hang gebaut wurde. Es gibt ein Untergeschoss mit einem Raum für die Aktivist*innen, einer Dusche, einem Keller und einer Tür zum Garten. Im Erdgeschoss führt ein kleiner Flur zu zwei Schlafzimmern für die Flüchtlinge, einer Küche und einem Versammlungsraum. Im Obergeschoss gibt es weitere Schlafzimmer und einen Gemeinschaftsraum, im Dachgeschoss gibt es weitere Schlafmöglichkeiten. Im Garten befinden sich zwei Wohnwagen und eine Trockentoilette. Es ist eng, aber freundlich, jeder teilt sein tägliches Leben. Jeden Montag gibt es eine Suppenküche. Die Verpflegung erfolgt durch das Rote Kreuz und die Nachbar*innen. Die Aktivist*innen, die wir trafen, sagten uns, dass sie finanzielle Unterstützung brauchen, aber auch, dass sie zahlreicher sein müssten, um dort leben und an politischen Kämpfen teilnehmen zu können.

„Chez Marcel“ ist nicht nur ein Ort, an dem sich Flüchtlinge ausruhen und informieren können, sondern auch ein Ort, an dem Interventionen gegen das Grenzregime entwickelt werden. Die Menschen dort sind eindeutig Aktivist*innen, aber sie wollen sich selber nicht von den Flüchtlingen unterscheiden, sie alle sehen sich als kämpfende Menschen. Es gibt natürlich Unterschiede, aber diese sind Gegenstand ständiger und bewusster Überlegungen, zumindest bei einigen Aktivist*innen. Während unseres Besuchs trafen wir etwa zwanzig westafrikanische Migranten, alle französischsprachig. Es gab eine Diskussion über die Möglichkeit, ein Sommercamp am Col de Montgenèvre zu organisieren, aber auch über die Angst, die Aufmerksamkeit der Ordnungskräfte und möglicherweise der Identitären auf sich zu ziehen.

Die Aktivist*innen verbergen ihr Engagement nicht, aber sie prahlen auch nicht damit. Gewiss kennen die Behörden ihr Engagement, die Stadtverwaltung toleriert sie und unterstützt sie sogar. Es ist ein Arrangement, das wie bei Cedric und Hubert auf einer Form von stillschweigender Toleranz beruht: Jede laute Handlung könnte dieses fragile Gleichgewicht stören. Schon vor 2015 wurden zwischen Italien und Frankreich Rückübernahmeabkommen geschlossen. Wir sind besonders an vorbildlichen Aktivitäten in dieser Grenzregion interessiert, weil Deutschland ähnliche Abkommen mit Frankreich und Österreich schließen will. Scheuen wir uns nicht, an diesen Grenzen ähnliche Aktivitäten zu entwickeln!

Unterstützungsstrukturen im Hinterland Briançonnais – Gap und Veynes

Das „Chum“ (centre d’hébergement d’urgence pour mineurs exilés – Notunterkunft für im Exil lebende Minderjährige) ist ein autonomer Raum in der Stadt Veynes, etwa dreißig Kilometer westlich von Gap. Es empfängt und beherbergt unbegleitete Minderjährige. Seit September 2017 sind rund 180 Minderjährige hier vorbeigekommen. Das „Chum“ von Veynes befindet sich im alten, verlassenen Haus des Bahnhofsvorstands. Das Bürgermeisteramt hätte dort ein soziales Projekt organisieren sollen, tat dies aber nie.

Aktivist*innen besetzten das Haus im Sommer 2017 – damals waren etwa 80 Minderjährige in Gap auf der Straße – und errichteten ein selbstverwaltetes Notaufnahmezentrum für minderjährige Migrant*innen mit einer maximalen Kapazität von 25 Personen (durchschnittlich zehn Migrant*innen sind anwesend).

Derzeit sind die Aktivist*innen entmutigt, weil sie nicht sehr zahlreich sind und die Situation schwierig ist. Es gibt immer weniger Freiwillige, die sich engagieren, und Meetings, zunächst wöchentlich, werden immer seltener.

Die Organisationen France Terre d’Asile und PASS (permanence d’accès aux soins de santé) sind vom Staat offiziell beauftragt, sich um unbegleitete Minderjährige zu kümmern, tun aber nicht viel, um schnell eine Unterkunft für sie zu finden oder ihnen den Zugang zu ihren Rechten zu garantieren.

Die Aktivist*Innen kümmern sich daher freiwillig um die Aufnahme von Migrant*Innen, ihren Zugang zur Betreuung und Befriedigung ihrer Bedürfnisse und ihren Verwaltungsakten. Sie fühlen sich isoliert.

Außerdem gibt es Spannungen innerhalb der Aktivist*innen, die nicht alle den gleichen Ansatz haben; eine humanitäre Vision (Betreuung von Migranten, handeln für diese) steht libertären Praktiken (Organisation des Kampfes und des täglichen Lebens mit Exilierten, gemeinsames Handeln) gegenüber.

Das „Maison Cézanne“ ist ein besetztes Haus in Gap, der Hauptstadt des Departements Hautes-Alpes. Es bietet derzeit Platz für 17 Personen in drei bis vier Zimmern. Das „Maison Cézanne“ wurde vom Kollektiv „un toit un droit“ besetzt, steht aber kurz vor der Räumung. Es gibt immer noch zwei oder drei Aktivist*innen im Kollektiv, aber keineR von ihnen lebt dort. Die Selbstorganisation mit den Migrant*innen im Haus ist schwierig, da diese meist nur auf der Durchreise sind. Das „Maison Cézanne“ wurde Anfang August vor Gericht gestellt: Urteil, das Haus ist verwertbar, um einen Immobilienbetrieb zu ermöglichen, die Bewohner werden auf die Straße zurückkehren.

* Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts gab es eine Erhöhung der Strafen für Aktivist*innen – siehe Beilage zur Kriminalisierung

Komplexität des Gesetzes und verschärfte Kriminalisierung in Frankreich

Es gibt ein altes Gesetz, das als „Solidaritätsdelikt“ bekannt ist und Beihilfe für die Einreise und den Aufenthalt von Personen in einer irregulären Situation bestraft. Es wurde gerade vom Verfassungsrat überarbeitet: uneigennützige Beihilfen für den „illegalen Aufenthalt“ können im Namen des „Bruderschaftsprinzips“ (fraternité) nicht strafrechtlich verfolgt werden. Andererseits bleibt die „Beihilfe zur illegalen Einreise“ strafba, entweder weil sie zum Überschreiten der Grenze eines illegalen Ausländers führt oder weil sie als militante Aktion zugunsten illegaler Ausländer*innen auf französischem Gebiet analysiert werden kann.

Briançon: Aus drei werden sieben! Elonora, Theo, Bastien plus vier.

Sieben Personen werden nun wegen „Hilfe beim Grenzübertritt in einer organisierten Bande“ angeklagt und werden am 8. November in Gap vor Gericht gestellt.

Seltene gastfreundliche Städte vs. repressiver Staat

Dieser Bericht und die neuesten Nachrichten von verurteilten Genoss*Innen zeigen, dass das Gleichgewicht zwischen den zu wenigen „gastfreundlichen“ Gemeinden und Solidaritätsinitiativen derzeit gebrochen ist. Die Entscheidungshierarchie behindert diese lokalen Unterstützungsinitiativen. Der französische Staat verschärft täglich seine Migrationspolitik und zeigt sich immer offener repressiv. Die Nationalversammlung hat soeben das neue Einwanderungs- und Asylgesetz endgültig verabschiedet, das eine echte Verschlechterung der Rechte von Ausländer*Innen darstellt: Verkürzung der Frist für die Beantragung von Asyl, Wegfall der aufschiebenden Rechtsmittel, Verlängerung der Haft, Registrierung, Ausweitung der Möglichkeiten der Aufenthaltsverbote etc.

Dies ist eine Wendung, die mit der Italiens vergleichbar ist, wo ein faschistischer Minister beschließt, italienische Häfen gegen den Rat der Gemeinden, in denen sich diese Häfen befinden, zu schließen. Das transnationale Projekt „Solidarity-City“ ist dringend notwendig, damit sich gastfreundliche Städte und Dörfer in den Ländern Europas gegen die von den meisten Staaten angestrebte Festung zusammenschließen.