Relocation from Below, EU Binnenmigration, Solidarity Cities

Erstveröffentlichung: https://ffm-online.org/relocation-from-below-eu-binnenmigration-solidarity-cities/

Wenn wir mit #Seebrücke und in den Solidarity Cities über Relocation, Sichere Häfen, Migrationskorridore und Safe Spaces sprechen, ist es ein erstes Ziel, die Stadtstaaten dazu zu bringen, gerettete Boat People nach § 23 Aufenth.G. aufzunehmen und dann auch andere Städte ermutigen, diesem Weg zu folgen. Wir hoffen, dass sich dadurch ein Tor öffnen könnte, das dann vielleicht auch anderen Migrant*innen offen steht.

Wir dürfen uns aber durch eine Politik, die einige wengie Boat People mit Getöse aufnimmt, um im Hintergrund Tausende ertrinken zu lassen, nicht dumm machen lassen. Es geht immer gleichzeitig auch um die Menschen, die in der MENA-Region oder im Sahel blockiert werden. Die Lage in den nordafrikanischen Staaten, von Ägypten bis Marokko, ist derartig instabil, dass regionale Aufbrüche von einem Tag auf den anderen wieder zu einer höheren Zahl von Mittelmeerpassagen führen könnten.

Dieses Papier ruft in Erinnerung, dass es darüber hinaus sehr viele Menschen gibt, deren Mobilität innerhalb Europas blockiert wird. Schon aus den wenigen Daten, die hier zusammengestellt werden, wird eine Dimension potentieller und aktualisierter Migrationen deutlich, die erwarten lässt, dass 2015 nicht ein einmaliges Ausnahmejahr bleiben wird. „Relocation from Below“, das sind aus dieser Sicht die realen Migrationsprozesse selbst. Auch in Hinsicht auf die blockierte europäiche Binnenmigration brauchen wir Sichere Häfen, Korridore und Solidarische Städte. Das ist zugleich der Ruf nach einer anderen Gesellschaft, in der wir leben wollen, und die offen ist für Alle, die hier, auf Dauer oder auf Zeit, leben wollen.

1. Freizügigkeit für EU Bürger*innen

Mit dem Inkrafttreten des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) im Jahr 2009 ist das Freizügigkeitsrecht für Unionsbürger in das Primärrecht der EU, also den Regelungen über ihre Funktionsweise, übergegangen. Im AEUV sind die Freizügigkeitsrechte für Arbeitnehmer (Artikel 45), das freie Niederlassungsrecht in der Union (Artikel 49) sowie die Dienstleistungsfreiheit (Artikel 56) festgelegt. Inzwischen gibt es in Dschland ca. 3 Millionen Arbeitsmigrant*innen, die aus anderen EU-Staaten immigiert sind. Nach dem Brexit könnten sich die 2 Millionen polnischen Migrant*innen, die sich derzeit in UK aufhalten, zurück melden.

Zum 1. Januar 2017 wurden die Sozialleistungen, die EU-Bürgern in Dschland zustehen, eingeschränkt. Keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben alle EU-Bürger*innen, die weniger als drei Monate in Dschland waren und hier keine Arbeit ausgeübt haben sowie EU-Bürger*innen, die „allein zum Zweck der Arbeitssuche“ eingewandert sind. Dies betrifft vor allem Migrant*innen, vielfach Roma, aus Rumänien und Bulgarien. Ihr Aufenthaltsrecht materiell zu sichern ist eine wichtige Funktion der Solidatity Cities.

2. Roma auf dem Balkan

Von den 10-12 Millionen Roma in Europa (Europarat 2011) leben in
Rumänien: 1,95 Millionen, Bulagrien 750 000, Ungarn 600 000, Serbien 500 000, Mazedonien 185 000, Bosnien-Herzegowina 60 000, Kratien 35 000, Montenegro 24 000. All diese Zahlen sind zweifelhaft und umstritten. Die meisten Roma sind bereits Bürger*innen der EU. Wenn Roma aus Nicht-EU-Staaten es derzeit bis nach Dschland schaffen, werden sie gnadenlos abgeschoben. Sollten Serbien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Albanien, Kosovo und Montenegro in 2021 in die EU aufgenommen werden, wird die Abschiebung nicht mehr möglich sein – zugleich aber entfällt die Möglichkeit, über einen Antrag auf Asyl wenigstens vorübergehend Sozialgelder zu beziehen.
Hinzu kommen etwa 500 000 Roma, die derzeit in Osteuropa leben, vor allem in der Ukraine.
Das folgende Bild hat Samantha (AMAL, Bramsche) in Skopje aufgenommen. Entlang dieser Bahnlinie verlief die große Migrationsbewegung von 2015. Einige tausend Roma schlossen sich an, aber sie waren die ersten, die abgeschoben wurden zurück in die „sicheren Drittstaaten“.

3. Illegalisierte Migrant*innen

Nachdem Indikatoren von 1998 bis 2009 auf einen kontinuierlichen Rückgang der Sans-Papiers-Bevölkerung hindeuteten, durch Legalisierung der Zuwanderung aus Osteuropa, ist seit 2010 wieder ein Anstieg zu verzeichnen. Für das Jahr 2014 wird die Bevölkerung in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität auf mindestens 180.000 bis maximal 520.000 Personen geschätzt.

Bei vielen illeganisierten Migrant*innen handelt es sich um Visa-Overstayers, die sich unterschwellig integriert haben. Hinzu kommt in den letzten Jahren eine zunehmende Zahl von Personen, die sich den Dublin-Abschiebungen entzogen haben oder die es nicht mehr riskieren wollen, ihre italienischen Papiere erneuern zu lassen. Es gibt deshalb einen steigenden Bedarf nach faktischen Aufenthaltsmöglichkeiten, zum Beispiel durch Urban Citizenship.
Oft sichern sich die Sans-Papiers ein Einkommen im Care-Bereich und im Bereich handwerklicher Dienstleistungen sowie in Swetshps und der Gastronomie, die meisten von ihnen in den großen Städten. Es entsteht eine Unterschichtung der Arbeitsmärkte nicht nur durch die Refugees und die Immigration aus den südosteuropäischen EU-Staaten, sondern daneben durch Menschen, die in Doppelter Prekarität leben müssen. Das Thema Arbeitsmarkt wird ein zunehmend wichtiges Thema in den Solidarity Cities sein.

4. EU-Hotspots

2015 hat die Europäische Union sogenannte Hotspots an den südlichen Außengrenzen der EU eingerichtet. Es gibt fünf Hotspots in Griechenland (Chios, Lesbos, Samos, Leros, Kos) und vier in Italien (Lampedusa, Pozzallo, Taranto, Trapani). Dort werden alle ankommenden Asylsuchenden registriert. Dafür sind sowohl Vertreter der nationalen Grenzbehörden als auch Mitarbeiter der Frontex und des EASO zuständig.

Dieses Bild zeigt den Eingangskomplex des Lagers Moria – im Sommer. Aufgrund der Überfüllung und der extremen Situation besonders im Winter sah sich die griechische Regierung gezwungen, die Situation in den Lagern zu entspannen. Tausende Schutzbedürftige, darunter Familien, alleinstehende Frauen und Minderjährige, wurden aufs Festland gebracht. Laut griechischem Migrationsministerium lebten Anfang Januar in und um die sogenannten Registrierzentren auf den Inseln rund 14.800 Menschen. Noch im Oktober waren es etwa 20.000.

Auf dem Landweg und über den Evros reisen Tausende aus der Türkei nach Griechenland, um mit dem Schiff über Italien oder über die westliche Balkanroute weiter nach Mitteleuropa zu gelangen. Ein großer Teil der 174 000 Menschen, die in 2018 in Dschland Asyl beantragt haben, kam auf diesen Wegen. Diejenigen, denen das Geld für die Schleuser ausgeht, landen in Belgrad oder in der Grenzregion zwischen Bosnien und Kroatien.

5. Italien

Das folgende Bild zeigt das Camp illegalisierter Orangen-Erntearbeiter*innen in Süditalien. Es ist dem Buch „Bittere Orangen“ von Gilles Reckinger entnommen, das „ein neues Gesicht der Sklaverei in Europa“ beschreibt. Die Orangenernte in Italien wurde bislang durch das dortige Migrationsregime gewissermaßen subventioniert. Die neue italienische Regierung unter Salvini hat dessen ungeachtet die Aufenthaltsbedingungen für die afrikanischen Migrant*innen derart verschlechtert, dass bis zu 140.000 Menschen imittelfristig in die Illegalität abrutschen werden. Es sind vor allem Migrant*innen, die nur ein zeitlich begrenztes Bleiberecht genießen. Viele von ihnen konnten bislang legal arbeiten, die meisten lebten in staatlichen oder kirchlichen Einrichtungen mit Integrations-Förderprogrammen.

Bei Ablauf des Duldungszyklus konnten sie ihre Aufenthaltsgenehmigung bislang meist ohne Probleme erneuern lassen. „Damit ist nun Schluss. Den Status der begrenzten Duldung gibt es in der bisherigen Form nicht mehr. Etwa 30.000 Menschen könnten schon in den kommenden Wochen über Nacht illegal werden. Was dann passiert? Das weiß keiner, die Betroffenen am wenigsten. In den staatlichen Lagern dürfen sie, nach jetzigem Stand, nicht bleiben. Sie stehen auf der Straße, können allenfalls noch Schwarzarbeit nachgehen oder fallen Kriminellen in die Hände“.

Italien verfügt trotz aller Rhetorik nicht über ein effizientes Abschiebesystem. Und es gibt trotz aller Barrieren eine beachtliche Hin- und Rück-Migration zwischen Frankreich, Dschland und Italien, trotz der Flüchtlingsabwehr in den französischen Alpen. Dass die Zahl der Passagen über das zentrale Mittelmeer seit dem Sommer 2017 dramatisch abgenommen hat, wird sich auf die EU-Binnenmigration zunächst nicht auswirken.

6. Spanien

Die Westmittelmeerroute war im Jahre 2018 die bedeutendste mit mehr als 50 000 Boat People, darunter 11 000 Marokkaner. Die Lage der Erntearbeiter auf den Tomatenplantagen von Almeria ähnelt den Verhältnissen in Süditalen in vieler Hinsicht – nicht zuletzt in Hinsicht auf den zunehmend offenen Rassismus. Obwohl die Sanchez-Regierung eine relativ offene Migrationspolitik betreibt und trotz der munizipalistischen Städte hat die Migration über die Pyrenäen in diesem Jahr erbeblich zugenommen. 80 bis 100 Transitaufenthalte würden, so ein Bericht in Le Monde, täglich an der Grenze im Baskenland und in Katalonien gezählt. Kommunen und Hilfsorganisationen organisieren auf der spanischen Seite Unterkünfte und in Bayonne gibt es solidarische Initiativen. Die französische Polizei hat nach Angaben des französischen Innenministeriums im laufenden Jahr bereits 10.500 Transitgeflüchtete nach Spanien zurückgeschoben.

7. Was heißt „Relocation from Below“?

Wenn wir über Relocation nachdenken, im Lichte der blockierten Migration in Afrika und der blockierten EU-Binnenmigration, dann ist es angemessen, die Begriffe von Sicheren Häfen, Migrationskorridoren und Solidariy City konkreter zu buchstabieren:

Sichere Häfen und Relocation für die (wenigen) Boat People, die noch gerettet werden können, reichen nicht aus. Vielleicht werden Boat People auf festeren Schiffen Europa zukünftig wieder häufiger aus eigener Kraft oder mit Unterstützung der Rettungs NGOs erreichen. Zur Zeit landen sie eher an den Stränden als in den Häfen. Sie brauchen dann Info-Points und Korridore für ihren weiteren Weg.

Korridore der Migration werden von hunderten Aktivist*innen unterstützt und gesichert. Sicherlich braucht es Info-Points und Sichere Häuser entlang der Routen, zu deren Unterstützung viele Menschen beitragen könnten – diese Routen sind nicht so offen sichtbar wie in 2015 auf der Balkanroute, aber zum Teil greifen sie, wie in den Pyrenäen, auf Jahrzehnte alte Traditionen von Widerstand und Ungehorsam zurück.

Die großen selbstorganisierten Camps, Idomeni und Calais, sind längst aufgelöst und zerstreut. Die Zahl der Menschen, die in Camps leben, ist indessen kaum geringer geworden. Heute sind es die kleinen Camps in den Grenzorten – vor allem aber sind es die informellen Camps in den Städten, die kaum mehr Gegenstand großer Aufmerksamkeit sind. Hier kreuzen sich Obdachlosigkeit, EU Migration und transnationale Migrationsrouten. Sich mit diesen Camps zu beschäftigen, da stehen wir erst am Anfang. In diesem Zusammenhang können wir vielleicht im Kontext der Solidarity Citiy Initiativen ein paar Dinge hinbekommen.